Übung 5: Übersetzung        [Zurück zur Frühneuhochdeutsch-Seite]

Wie Raymond von seinem Verwandten und Lehnsherrn so viel Land bei dem Durstbrunnen zu Lehen empfing, wie er mit einer Hirschhaut einschließen könne.

Als nun dieser Graf solcherart bestattet worden war, kamen alle Edelleute zu seinem Sohn Bertram und reklamierten und empfingen ihre Lehen, wie man dies üblicherweise bei einem neuen Lehensherrn tun muss. Raymond trat vor und äußerte seine Bitte, wie er es von seiner Gemahlin gelehrt worden war, und sprach: „Gnädiger Herr, ich bitte Euer Gnaden, dass um der treuen Dienste willen, die ich dem Grafen Amrich, meinem seligen Herrn und Verwandten, mein Lebtag lang geleistet habe, Ihr mir bei dem Brunnen, den man den Durstbrunnen nennt, so viel an Felsen und Grund und Boden geben wollt, auch an Äckern oder Wiesen, wie ich mit einer Hirschhaut einschließen oder damit umfassen kann. Und mehr begehre ich nicht für alle meine Dienste, und es scheint mir, meine Bitte sei so demütig und verursache so wenig Kosten, dass Ihr sie mir nicht versagen solltet.“ Der Herr antwortete ihm huldvoll und sprach: „Ich will deiner Bitte Ehre erweisen und sie dir nicht verweigern, wenn mir meine Räte und Gefolgsleute nicht sehr davon abraten.“ Die Herren sprachen allesamt: „Herr, Ihr solltet es Raymond nicht verweigern, da er dergleichen und Größeres um unserern gnädigen Herrn selig und auch um Euer Gnaden wohl verdient hat.“ Der Graf Bertram gab ihm die Gabe, wie er sie begehrt hatte. Daraufhin bat ihn Raymond sehr angelegentlich, dass er ihm dies rechtskräftig bestätige. So ließ er ihm sogleich seine Besitzurkunden ausfertigen, die allerdings ganz meisterlich aufgesetzt waren. Jeglichem von ihnen schien es, hinge nicht sein Siegel auch daran, es wäre nichts wert, und es waren alle guten Willens. Als nun die Urkunden so aufgesetzt und gesiegelt waren mit des Grafen großem Insiegel samt des Ingesiegels vieler anderer Herren und Ritter und das Datum des Jahres und Tags schön eingesetzt war mitsamt den Zeugen, da begegnete Raymond morgens einem Mann, der eine schön gegerbte Hirschhaut bei sich trug. Die kaufte er sogleich und ließ sich daraus gar schmale, dünne Riemen schneiden, soviel er daraus machen konnte, und kam wieder zu dem Grafen und begehrte, dass man freundlichst ihm sein Lehen offiziell übergeben wolle. Der Graf ordnete sogleich seine Gesandten und etliche Räte ab, die mit ihm zu dem genannten Brunnen ritten, um ihm das Lehen öffentlich zu überantworten. Als sie nun zu dem Brunnen kamen und sahen, dass Raymond die Hirschhaut so schmal und klein in Riemen geschnitten hatte, wunderten sie sich sehr und wussten nicht, was sie tun sollten, denn es schien ihnen, es werde gar eine große Fläche an Wald, Felsen, Feld und Land umfassen. Alsbald kamen zwei unbekannte Männer und nahmen die zerschnittene Hirschhaut und wickelten sie zusammen wie ein Knäuel, das jedoch groß wurde; und sie steckten einen Pfahl an eine Stelle und banden das eine Ende des langen Riemens an den Pfahl und umzogen den Felsen und den vorgenannten Durstbrunnen und eine große Fläche des Tals darunter bis zu dem Bach, der da floss, und hatten alsbald eine so große Fläche umschlossen, so dass die Gesandten, die dorthin geschickt worden waren, nicht gedacht hätten, dass man auch nur die Hälfte so viel und so weit jemals damit hätte umschließen können.

 

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