Aus dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (2)        [Zurück zur Frühneuhochdeutsch-Seite]

Mit dem vorliegenden Beitrag setzen wir die kleine lexikographische Reihe fort, die Ihnen Lust machen soll, hier und da das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch tatsächlich einmal in die Hand zu nehmen – nicht nur, um damit zu arbeiten, sondern auch, um darin im wahrsten Sinne des Wortes zu schmökern. Wir suchen heute ein Stichwort (Lemma) auf, das eines der in der Reformationszeit zentralen Kampfwörter repräsentiert:

Ablass

Wer das FWB (Bd. 1, Sp. 204 ff.) aufschlägt, bemerkt rasch, dass die dort durchgeführte Lemmatisierung (ablas) von der heute orthographischen Schreibung abweicht. Es entspricht den Lemmatisierungsprinzipien des FWB, Vokalkürze zwar – analog zur heutigen Orthographie – durch Gemination des Folgekonsonanten darzustellen und daher beispielsweise ablassen zu lemmatisieren, auf diese Gemination jedoch zu verzichten, wenn der fragliche Konsonant im Auslaut erscheint.

Der Artikelkopf gibt abgesehen von den Hinweisen auf Flexionsformen (Genitiv Singular: des ablasses, Nominativ Plural: die ablässe) noch die Information, dass ablas im Frühneuhochdeutschen zumeist als Maskulinum erscheint, bisweilen jedoch auch als Neutrum vorkommt. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass eine sprachliche Norm in frühneuhochdeutscher Zeit noch nicht vorhanden war bzw. sich im 16. Jahrhundert gerade erst herauszubilden begann, bemerkt man in den Angaben zur Häufigkeit eine Tendenz auf die heutige Norm hin, die Ablass ausschließlich als Maskulinum kennt. Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass diese Tatsache das Ergebnis der Entwicklungen in frühneuhochdeutscher Zeit ist: Wäre seinerzeit ablas als Neutrum häufiger gebraucht worden denn als Maskulinum, so wäre auch heute mit Sicherheit das Ablass üblich. – Zu erinnern ist daran, dass etliche Wörter der deutschen Standardsprache bis heute eine Genusschwankung aufweisen (z. B. der/die Abscheu, das/der Begehr, der/die Gischt, der/das Knäuel, der/das Sims; eine ausführliche Liste bietet die Dudengrammatik, 6. Aufl. 1998, S. 208 ff.). Noch bunter wird das Bild, wenn man die verschiedenen regionalen Varietäten in den Blick nimmt: standarddt. der Bach, rhfrk. die Bach, stdt. die Brezel, bair. das Brezel usw. In allen diesen Fällen ist eine Entwicklung in Richtung auf grammatische Einheitlichkeit in frühneuhochdeutscher Zeit nicht oder nicht vollständig erfolgt.

Betrachtet man die Semantik von ablas, so wird – für zentrale Wörter der frühneuhochdeutschen Zeit nicht ungewöhnlich – eine hochgradige Polysemie erkennbar: Dreizehn verschiedene Bedeutungen setzt das FWB an, im Einzelnen:

  1. ›Unterbrechung, Aufhören von etw.‹, speziell: ›Nachlassen des religiösen Ernstes‹;
  2. ›bei der Aufgabe eines Gutes zu entrichtende Gebühr‹;
  3. ›Erlaubnis, Recht, Berechtigung, Genehmigung zu etw.‹;
  4. ›Nachlass, Minderung (einer finanziellen Verpflichtung oder sonstigen Last); Befreiung von einer solchen Verpflichtung‹;
  5. in Formeln wie ablas der sünde ›Vergebung der Sünden durch Gott oder einen Priester, im letzteren Falle per gratiam dei oder in Form der Absolution nach vorhergegangener Beichte‹; mit Verschiebung des Genitivobjekts – in Fügungen wie ablas der sünder – ›Lossprechung (des Sünders)‹;
  6. ›Nachlass oder Erlass der Sündenschuld und damit verbunden geglaubter Sündenstrafen durch die Kirche auf Grund der Erfüllung vorgeschriebener, darunter vor allem finanzieller Voraussetzungen‹;
  7. ›der bei Gelegenheit von Ablasstagen stattfindende Jahrmarkt, mit dem Ablass verbundener Festtag‹;
  8. ›finanzielle Ausbeutungspraxis (allgemein, nicht im Sinne der Ablasspraxis);
  9. ›Missbrauchung von jm. (im sexuellen Sinne)‹; in der Wendung des ablasses teilhaftig werden ›sich brauchen lassen‹;
  10. ›Ablauf, Abfluss, Auslaufenlassen (von Gewässern) als Vorgang/Tätigkeit‹;
  11. ›Vorrichtung zur Regulierung (von Gewässern), Überlaufstelle, Staustelle‹, speziell: ›Wehr, Schleuse‹;
  12. ›das Ablassen des Weins aus dem Fass‹; metonymisch: 12 a) ›Most, junger Wein‹; 12 b) ›die Zeit im Herbst, in der der Wein abgefüllt wird‹;
  13. ›Losbrennen, Abfeuern von Geschützen‹.

Die für die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge der Reformation einschlägigen Bedeutungen sind 5–7, ggf. auch noch 8 und 9. An der Reihenfolge der Bedeutungen ist eine zunehmende Pervertierung der Ablasspraxis erkennbar. Während ablas 5 nur für eine religiöse Handlung steht, zeigt ablas 6 bereits die Verknüpfung dieser Handlung mit finanziellen Forderungen. Signifikant ist an dieser Stelle der im FWB erfolgende Nachweis bedeutungsverwandter Wörter wie büberei und misbrauch und auch syntagmatischer Fügungen wie den ablas verkaufen / suchen / kaufen / bezalen / lösen. Vollends greifbar wird die historische Situation, auf die Martin Luthers 95 Thesen reagierten, in einem Belegtext wie dem aus der Augsburger Chronik des Burkard Zink, der zu dem Wort ablas (im Text: abloß) folgende Informationen enthält: Pilger suchen massenweise Nachlass oder Vergebung ihrer Sündenschuld und damit verbunden geglaubter Sündenstrafen durch die Kirche. Die Ablasserteilung erfordert als Gegenleistung Almosen und eine gewisse Anzahl von Kirchenbesuchen. Die benedicier (›Buß- und Strafprediger in Verbindung mit dem Ablasshandel der Kirche‹, vgl. FWB 3, Sp. 1284) veranschlagen den Ablass Suchenden nach seiner Leistungsfähigkeit. Es geht alles nur um das Geld. Etliche Tage lang nimmt die Kirche jeden Tag mindestens ein Augsburger metz (Hohlmaß) voller Regensburger Taler, also eine große Summe Geldes ein. Trotzdem gibt es niemanden, der sich entzieht, denn jedermann möchte in den Himmel kommen, eine für die religiösen Nöte der Zeit signifikante Aussage. Der Beleg lautet: daß sovil pilgerin kamen von verre und von nache, die den abloß suechten [...]. man mueßt 7 tag da beleiben und alltag in 4 kirchen gan und ir almuessen darinnen laßen. und sol man wißen, daß die benedicier groß und viel gelts auflegten, darnach und der man reich oder arm was, und darnach sie statt funden an den leuten, es was alles nur umb das gelt zu tuen. man sagt fürwar, daß von pfingsten biß auf Jacobi kain tag nie kam, es wurd ain Augspurger metz voller Regenspurger da gelaßen und gegeben, dann iederman wolt gen himl.

Ablas 7 steht für die Praxis, an solchen Ablasstagen zugleich Jahrmärkte oder sonstige Volksbelustigungen abzuhalten – eine Tatsache, die zeigt, dass es letztlich nur noch um die kommerzielle Seite der Veranstaltung ging. Dies und die Diskrepanz zu dem in Bedeutung 5 erkennbaren moralisch-religiösen Anspruch war selbstverständlich auch den Zeitgenossen klar, wie besonders anschaulich die Bedeutungen 8 und 9 zeigen, in denen ablas jeweils nur noch als moralisch verwerfliche Handlung erscheint.

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