Aus dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (1)        [Zurück zur Frühneuhochdeutsch-Seite]

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB), gemeinsam mit einigen anderen herausgegeben von dem Heidelberger Sprachwissenschaftler Professor Oskar Reichmann, ist das wichtigste Nachschlagewerk, wenn es um frühneuhochdeutschen Wortschatz geht. Das FWB zeichnet sich gegenüber Wörterbüchern zu anderen historischen Sprachstufen (z. B. dem Leipziger Althochdeutschen Wörterbuch und den Wörterbüchern von Benecke/Müller/Zarncke und Lexer zum Mittelhochdeutschen) durch einige spezifische Eigenschaften aus und hat Vorbildfunktion für die historische Lexikographie überhaupt. Es wird daher eigens in einer Seminarsitzung (am 4. 12. 2012) thematisiert. Unabhängig davon wird in einer kleinen Reihe Wissenswertes zu ausgewählten Einheiten des frühneuhochdeutschen Wortschatzes vorgestellt. Die Beiträge sind Paraphrasen der entsprechenden Wörterbuchartikel und sollen exemplarisch zeigen, dass das FWB keineswegs nur als Nachschlagewerk bei konkreten Fragen zur Wortbedeutung dienen kann, sondern dass es sich ebensogut auch als Lesebuch eignet: als Fundgrube für jede/n sprachhistorisch, aber auch kulturhistorisch Interessierte/n. — Die Reihe beginnt mit folgendem Wort:

Abenteuer

Unter diesem Stichwort oder Lemma, wie der Lexikograph sagt, findet man im FWB (Bd. 1, Sp. 61–68) insgesamt 17 verschiedene Bedeutungen. Allein dies ist bemerkenswert, zumindest wenn man weiß, dass Lexers Mittelhochdeutsches Wörterbuch für die mhd. Entsprechung âventiure nur fünf Bedeutungen und das größte Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, der zehnbändige Duden, für Abenteuer nur vier Bedeutungen verzeichnet. Zwar gehört es zu den Besonderheiten des FWB (vor allem der von Oskar Reichmann selbst verfassten Strecken1), dass bei der Unterscheidung verschiedener Wortbedeutungen sehr differenziert verfahren wird, was logischerweise dazu führt, dass tendenziell eher mehr als weniger Einzelbedeutungen angesetzt werden.2 Gleichwohl ließe sich allein damit der deutliche quantitative Unterschied nicht erklären, wenn man nicht auch noch sprach- bzw. kulturhistorische Gründe anführen könnte: Zum einen ist das Frühneuhochdeutsche, wie an anderer Stelle erläutert, im Gegensatz zum Mittelhochdeutschen und zum Neuhochdeutschen eine Epoche, in der das Varietätenspektrum nicht vertikal, sondern horizontal gegliedert ist. Das heißt, dass es in frühneuhochdeutscher Zeit keine allgemein anerkannte Leitvarietät gab, nach der sich der Schreibusus richtete, sondern dass letztlich alle Varietäten als mehr oder weniger gleich „gut“ angesehen wurden. Dies führte zu einer großen Variantenvielfalt, nicht nur in der Frage der Schreibung, sondern auch in der Grammatik und eben in der Lexik. Nicht selten finden sich statt eines einzigen Wortes mehrere regionalspezifische Synonyme, von denen sich in der Regel aber nur eines zum Neuhochdeutschen hin durchgesetzt hat (z. B. frnhd. anfechtung, anweigung und bekorung, nhd. Anfechtung). Dasselbe gilt auch für die Wortsemantik: Ein Ausdruck wie abenteuer wurde, wie wir noch sehen werden, in dem einem Dialekt oder der einen Fachsprache anders gebraucht als in einem/einer anderen; das Wörterbuch aber muss selbstverständlich alle diese verschiedenen Gebrauchsweisen dokumentieren. — Der zweite Grund für die Bedeutungsvielfalt, die das frnhd. abenteuer aufweist, dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass die Zeit des Frühneuhochdeutschen kulturhistorisch gesehen identisch ist mit der Epoche des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Es sind nicht zuletzt zwei verschiedene Weltansichten oder Mentalitäten, die dabei ineinander übergehen. Die ritterlich dominierte Kultur des hohen Mittelalters verstand âventiure – nach Ausweis des Lexers – im Sinne von

  1. ›wunderbare Begebenheit‹,
  2. ›gewagtes Beginnen mit ungewissem Ausgang (das als ritterliche Bewährungsprobe dient)‹,
  3. ›zufälliges, insbesondere glückliches Ereignis‹,
  4. ›Gedicht von einem solchen Ereignis‹ und schließlich
  5. die Personifikation der dichterischen Inspiration, die Muse des höfischen Romans.

Von diesen Bedeutungen sind heute nur die beiden ersten mehr oder weniger erhalten, hingegen sind zwei neue hinzugekommen. Abenteuer bedeutet im Neuhochdeutschen – dem zehnbändigen Duden zufolge –

  1. ›gefahrvolle Situation‹,
  2. ›außergewöhnliches, aufregendes Erlebnis‹ (entspricht in etwa der mhd. Bed. 1),
  3. ›riskantes Unternehmen mit ungewissem Ausgang‹ (entspricht in etwa der mhd. Bed. 2) und
  4. ›flüchtige Liebesaffäre‹.

Im Frühneuhochdeutschen nun wird eben der Übergang von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Sicht der Dinge greifbar: Die neuen Verwendungsweisen des Wortes abenteuer deuten sich bereits an, während die alten noch nicht in Vergessenheit geraten sind. Frnhd. abenteuer kann nach Auffassung des FWB bedeuten:

  1. ›ritterliche Bewährungsprobe, risikoreiches Unternehmen‹,
  2. ›bei der ritterlichen Bewährungsprobe errungene Trophäe, Siegesbeweis, Preis für ritterliche Tüchtigkeit‹ (metonymisch3 zu 1),
  3. ›militärische Auseinandersetzung, Kampf, Krieg‹,
  4. ›Beute aus militärischer Auseinandersetzung‹ (metonymisch zu 3),
  5. ›merkwürdige, wunderbare, gefahrvolle Begebenheit oder Tat‹,
  6. ›Erzählung von einer merkwürdigen Begebenheit oder Tat‹,
  7. ›Lügengeschichte, Ammenmärchen‹,
  8. ›Unrechtmäßigkeit jeder Art, Ungebührlichkeit, Unsittlichkeit, Betrug, Gaunerei‹,
  9. ›Posse, Gaukelspiel, Zaubertrick‹,
  10. ›Mittel zur Posse‹ (metonymisch zu 9),
  11. ›Risiko, Wagnis (meist geschäftlicher Art)‹ (überwiegend fachsprachlich),
  12. ›Geschäft, Handelsabschluss‹,
  13. ›minderwertige, verdächtige Handelsware‹,
  14. ›Zufall, Glück‹,
  15. ›Bergschatz‹ (fachsprachlich),
  16. ›Preisschießen, Wettschießen‹,
  17. ›beim Preisschießen zu gewinnender Preis‹ (metonymisch zu 16).

Wie sich zeigt, treffen alle drei Begründungen für die Bedeutungsvielfalt des frnhd. Wortes abenteuer zu: Erstens sind die semantischen Aspekte im FWB stärker differenziert als im Lexer oder im Duden; zweitens finden sich fachsprachliche Wortverwendungen; drittens schließlich wurde das ritterliche Vokabular vom aufstrebenden Bürgertum für dessen Zwecke adaptiert (vgl. die FWB-Bedeutungen 1/2 vs. 11/12 und 16/17), ohne dass deshalb der ritterliche Wortgebrauch schon gleich in Vergessenheit geriet.

Anmerkungen

1. Unter einer Wörterbuchstrecke versteht man einen bestimmten Abschnitt des Alphabets. (Zurück zum Haupttext.)

2. Es ist eine sehr laienhafte Meinung, dass ein Wort eine bestimmte Anzahl von einzelnen, voneinander klar unterscheidbaren Bedeutungen „habe“. Dasjenige, was in einem Wörterbuch als Bedeutung eines Wortes angesetzt wird, beruht (wenn es nicht einfach aus einem anderen Wörterbuch abgeschrieben ist) auf der Interpretation einer Reihe von einzelnen Wortbelegen durch den Lexikographen oder die Lexikographin. Dabei verfährt keineswegs jede/r auf die gleiche Weise: Wie ein Beleg zu deuten sei und welche Belege als übereinstimmend zu einer Bedeutung zusammengefasst und damit von anderen, zu anderen Bedeutungen zusammengefassten Belegen abgegrenzt werden, unterliegt letztlich der individuellen Entscheidung der Person, die den Wörterbuchartikel schreibt. Es ist mithin ein Kriterium für die Qualität eines Wörterbuchs, wie explizit die lexikographische Entscheidung dokumentiert und begründet wird. Das FWB, wie die Beschäftigung mit ihm zeigen wird, ist nicht zuletzt unter diesem Aspekt ein vorzügliches Wörterbuch. (Zurück zum Haupttext.)

3. Eine Metonymie ist in der Rhetorik eine Redefigur, bei der ein Ding so genannt wird wie ein anderes, zu dem sie in einem bestimmten sachlichen Verhältnis steht. Unter anderem kann ein Teil so genannt werden wie das Ganze (Pars pro toto), ein Ganzes so wie einer seiner Teile (Totum pro parte) oder, wie im gegenwärtigen Fall, das Ergebnis oder Produkt einer Tätigkeit so wie die Tätigkeit selbst. (Zurück zum Haupttext.)

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